X: Mit radikaler Selbstverantwortung zum Mond

Je größer und unbekannter die Herausforderung, umso mehr kommt es auf die einzelnen Menschen an.
Project Loon — Internet für alle von Ballons aus der Stratosphäre

Wir sind zu Besuch bei X, der Moonshot-Factory der Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin. Hier werden Projekte verfolgt, die so futuristisch klingen, dass wir bei unserem Besuch vor Ort beinahe glauben im falschen Jahrhundert gelandet zu sein: Internet für alle Menschen über Luftballons in der Stratosphäre oder Energiegewinnung mit Windkraftwerken, die über dem Meer fliegen; oder auch das bereits aus X graduierte Projekt Waymo: das selbstfahrende Auto

Warum wir hier sind

Wir werden von Kunden oft gefragt: Wie können wir agiler werden? Wie können wir unsere Mitarbeiter dazu motivieren, wie Entrepreneure zu denken und zu handeln? Im Silicon Valley geht das doch auch, oder nicht? Immerhin kommen von dort die Methoden, die das nahelegen wie Agile, Lean Start-up, Design Thinking und das bekannte Ziele-System von Google: Objectives and Key Results, kurz OKR.

Nun, wir haben einige Vermutungen, ob und — wenn ja — warum das im Valley funktioniert. Und diesen Annahmen sind wir mit einer Reise ins Silicon Valley auf den Grund gegangen.

Wir erheben in diesem Blog nicht den Anspruch, wissenschaftlichen oder journalistischen Kriterien zu genügen. Wir haben allerdings das große Glück, Freunde bei X, Tesla und IDEO zu haben, die uns sehr persönlich und sehr offen von ihren Erlebnissen berichten. Das ist eine subjektive Sicht. Und zwar eine, die sehr tief geht. Wir werden, wo uns das möglich ist, Annahmen treffen, warum im Silicon Valley einiges möglich ist, was bei uns nur schwer geht.

Das Silicon Valley ist voll von Entrepreneuren und Start-ups aus aller Welt, die nach den Sternen greifen. Und X ist unter all diesen nochmal ein Extremfall. Darum ist das Unternehmen für uns ideal, um Antworten auf die Fragen zu finden, deretwegen wir ins Valley gekommen sind:

  • Wie finden die Menschen hier den Mut, sich so weit ins Neuland zu wagen?
  • Wie ist die Kultur in den Unternehmen, die diesen Innovationsgeist ermöglicht?
  • Und welchen Beitrag leisten dazu Methoden wie OKR, Agile, Design Thinking, Lean Start-up?

Unsere Eintrittskarte in eine neue Welt

100 Mayfield Ave. — Die Moonshot-Factory in Mountain View

Eine unscheinbare ehemalige Mall beherbergt X. Von außen sind dem Gebäude die großen Ambitionen nicht anzusehen, die drin verfolgt werden. Und auch nicht die genialen Köpfe, die daran mitarbeiten. Unser Freund Paul ist einer von ihnen und wir sind ihm sehr dankbar, dass er uns Zugang verschafft zu einem Unternehmen, das sehr auf Diskretion wert legt.

“Ich habe ein halbes Jahr gebraucht, bis ich verstanden habe, wie das hier wirklich funktioniert.” Paul erzählt uns von seinem Eintauchen in die Welt von X. Er wurde bei einer Konferenz über Computer Vision angesprochen. In diesem Bereich forscht er. Bei X angekommen musste er feststellen: Niemand sagt ihm, was er zu tun hat. Ressourcen stehen ausreichend zur Verfügung. Wenn er Unterstützung braucht, muss er sich diese aber selbst holen. Das ist das System der Moonshot-Factory. Und das macht auch Sinn.

Lastenhefte für Schüsse zum Mond? Geht nicht!

Denn für die Projekte von X gibt es keine Vorbilder. Alles ist völlig neu: Das Problem, die Technologie, der Lösungsansatz.

Für diese Projekte lassen sich keine Lastenhefte und detaillierten Projektpläne schreiben, keine exakten Rollenbeschreibungen, keine stringenten Top-Down-Organisationsdesigns. Die Organisation entsteht, während sich das Projekt entwickelt. “Wenn ein Team draufkommt, dass es auf dem Holzweg ist, biegt es woanders hin ab. Und alle anderen müssen sich daran orientieren”, erklärt uns Paul.

Selbstorganisierte Kommunikation

Wie funktioniert die Abstimmung unter solchen Bedingungen? Paul beschreibt uns den Prozess: “Alle drei Monate gibt es hier in der zentralen Halle eine große Präsentation aller Teams, die über ihren Fortschritt berichten und ihre Pläne für die nächste Zeit.” Ansonsten veranstaltet man projektintern alle ein bis zwei Wochen Meetings. Projektübergreifend nur anlassbezogen. Doch die meiste Abstimmung passiert en passant zwischen einzelnen Personen. Und da wird viel besprochen. Sonst wäre es nicht möglich, einen sinnvollen Beitrag zu leisten. Entschuldigungen à la: “Ich konnte nicht, weil Kollege XY hat noch nicht…” gelten hier nicht. Du musst selbst dafür sorgen, dass du bekommst, was du brauchst.

Mach andere erfolgreich!

“Wenn du wissenschaftlich geniale Ergebnisse lieferst, aber keiner kann damit weiterarbeiten, bekommst du hier keine guten Bewertungen. Du musst mit dem, was du tust, andere erfolgreich machen”, so umreißt Paul, was von ihm und anderen Mitarbeitern erwartet wird. Und das ist gar nicht so leicht, denn alle hier sind gut.

dein Beitrag zählt

Hier sind alle genial. Entscheidend ist: Leistest du einen Beitrag für die anderen?

Nur 20 % sind Amerikaner. Der Rest des Staffs kommt von überall aus der Welt. Viele Frauen sind darunter. Diversity ist wichtig bei X. Culture Clash ist kein großes Problem. Das liegt auch daran, dass nur Leute zu X geholt werden, die mit Interkulturalität auch umgehen können. Gegenseitige Unterstützung wird groß geschrieben. Wenn du fragst, wird dir jeder helfen.

Warum kommen all diese genialen Leute zu X?

Zum einen wegen der erstaunlichen wissenschaftlichen Herausforderung. Üblicherweise ist das Ergebnis deiner Arbeit als junger Wissenschaftler ein Paper in einem mehr oder weniger bekannten Journal. Das wars dann.

Bei X wird auf höchstem wissenschaftlichen Niveau an Produkten für die echte Welt gearbeitet. Hier werden große, gigantische Probleme gelöst. Da ist man gern mit dabei.

Zum anderen kommen die Leute, weil hier die besten ihres Fachs weltweit tätig sind. Die Forscher regen sich gegenseitig an und fordern sich heraus. Du kannst wachsen und dich entwickeln wie sonst kaum wo.

Was leistet OKR bei X wirklich?

Das Unternehmen X interessiert sich sehr dafür, ob die einzelnen Mitarbeiter einen sinnvollen Beitrag leisten: Paul gibt im Drei-Monatsrythmus eine Bewertung über seine Arbeit ab. Diese muss er gut verkaufen, was für einen Europäer gewöhnungsbedürftig ist. Wir leben Understatement. Die Amerikaner vermarkten sich selbst. Wenn man nicht untergehen will, muss man da mithalten.

Außerdem werden Kollegen befragt und ein Komitee befindet über die Leistungen der Mitarbeiter. Ziele werden nach dem OKR-System (Objectives and Key Results) sehr hoch gesteckt. Da alle wissen, dass in etwa 80 % erreicht werden müssen, schwingt man sich auf ein Level ein, das für alle realistisch erscheint. 80 % ist das neue 100 %. Allerdings: Ich kenne kein Zielsystem, wo das Verhandeln um Ziele nicht ähnlich abläuft.

Radikale Selbstverantwortung. Das ist die kulturelle Lösung, von X. Sie ermöglicht dem Unternehmen, sich mit seinen Projekten so weit ins Neuland vorzuwagen.

Was ermöglicht diese Kultur?

Am Ende eines langen Besuchs haben wir ein Bild, was es bedeutet bei X zu arbeiten:

  • Ein großartiges Team aus herausfordernden Kollegen
  • Ein begeisternder Zweck: an vorderster Front der Wissenschaft die Welt verändern
  • Kein Bemuttern: Support bekommst du genug — aber nur auf eigenen Initiative
  • Klare Rückmeldungen fokussieren auf den eigenen Beitrag für andere.
  • Im absoluten Neuland kommen nur Pioniere weiter, die gut zusammenhelfen.

Kontext

Eine Sache unterscheidet das Silicon Valley von Österreich und Deutschland (vielleicht mit Ausnahme Berlins): Es gibt hier sehr viel Geld von risikobereiten Investoren. Und im Falle von X sind das die beinahe unerschöpflichen Finanzmittel der Google-Gründer. Larry Page und Sergey Brin scheinen die Moonshot-Factory als ihre persönliche Spielwiese zu betrachten. Die beiden arbeiten in Projekten mit und haben ihre Schreibtische im Haus, man trifft sie beim Kaffee.

Und das hilft schon sehr. Denn viel Geld ist praktisch, wenn man ein hochkarätiges Team zusammenstellen will. Es macht es für Page und Brin leichter, Zwecke zu setzen, die ihnen und anderen Spaß machen. Wirtschaftlichkeit muss nicht unbedingt das wichtigste Kriterium sein. Denn nicht alle Projekte bei X laufen gut, wie spätestens seit dem medial ziemlich prominent abgehandelten Scheitern der Datenbrille Glass bekannt ist. Seither ist man bei X ziemlich verschlossen. Umso glücklicher schätzen wir uns, dass wir einen so tiefen Einblick erhalten haben.

Und eine geheime Zutat, die wir gut kennen

Wir sind Rudl und Schwarm. Und wer uns kennt, weiß: eine Zutat würden wir noch auf dieser Liste vermuten. Und da kommt sie schon in Gestalt von Astro Teller, dem CEO von X:

Nach dem Mittagsmenü vom Haubenkoch sitzen wir im X-eigenen Coffeeshop und beschließen einen spannenden Besuch. Da kommt CEO Astro Teller auf Rollschuhen vorbei und holt sich ein Getränk. Teller nennt sich “Captain of Moonshots”. Ich komm mir vor wie in Starlight-Express des 21. Jahrhunderts.

Und so sind wohl auch bei X ein wenig Humor und Verspieltheit die geheimen Zutaten, die das Herz öffnen und uns den Mut finden lassen, Neues zu wagen.

Welche großen Herausforderungen beschäftigen dein Unternehmen? Was bedeutet das für die Organisation und die Menschen?

Schreib uns ein paar Zeilen!

Komm ins Rudl! Flieg mit im Schwarm!